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jetzt, da für euch Jahrhunderte und Aberjahrhunderte vergangen sind, bin ich immer noch nur einen
winzigen Krümel Zeit weitergekommen ...«
»Aber auch deine Sonne bewegt sich doch immerhin, und der Tag wird kommen, sei s auch erst in
zehntausend Jahren oder mehr, da auch du in deinen Samstag gelangen wirst.«
»Ja, und dann wird es noch schlimmer sein. Dann werde meinem Fegefeuer in meine Hölle gelangen.
Denn der Schmerz jenes Todes, den ich verursacht habe, wird nicht aufhören, aber ich werde die
Möglichkeit nicht mehr haben, die mir jetzt noch geblieben ist, nämlich das Geschehene ungeschehen zu
machen.«
»Wie das?«
»Du weißt nicht, daß unweit von hier der Antipoden-Meridian verläuft. Hinter jener Linie, sowohl in
deinem Universum wie in meinem, ist der vorige Tag. Wenn ich, nachdem ich nun befreit bin, jene Linie
überschreiten könnte, würde ich mich wieder an meinem Gründonnerstag befinden; und dieses
Skapulier, das du auf meinen Schultern siehst, ist das Band, mit dem meine Sonne an mich gefesselt ist,
um mir stets wie mein Schatten zu folgen und dafür zu sorgen, daß überall, wohin ich gehe, die Zeit so
lang wie die meine dauert. Ich könnte also nach Jerusalem eilen, indem ich durch einen sehr langen
Gründonnerstag zurückreisen würde, und dort eintreffen, bevor ich meine Untat begangen hatte. Und so
könnte ich meinen HErrn vor seinem Schicksal bewahren.«
»Aber«, entgegnete Ferrante, »wenn du die Passion Christi verhindern würdest, hätte es niemals eine
Erlösung gegeben, und die Welt wäre immer noch in der Erbsünde.«
»O weh!« rief Judas klagend aus. »Immer denke ich nur an mich! Aber was soll ich denn machen?
Wenn ich es dabei belasse, getan zu haben, was ich getan habe, bleibe ich ewig verdammt. Wenn ich
meine Tat wiedergutmache, störe ich Gottes Heilsplan und werde dafür mit ewiger Verdammnis bestraft.
Stand es von Anfang an geschrieben, daß ich dazu verdammt war, verdammt zu sein?«
Die Prozession der Bilder erlosch mit der Klage des Judas, als das Öl in der Lampe verbraucht war.
Jetzt sprach wieder Pater Caspar, doch mit einer Stimme, die Roberto nicht mehr als die seine erkannte.
Das spärliche Licht kam jetzt aus einem Spalt in der Wand und beleuchtete nur einen Teil seines
Gesichts, wobei es die Linie des Nasenrückens verzerrte und die Farbe des Bartes im ungewissen beließ
- auf der einen Seite war er schneeweiß, auf der anderen dunkel. Die Augen waren zwei schwarze
Höhlen, denn auch das auf der beleuchteten Seite schien im Schatten zu liegen. Dann aber erkannte
Roberto, daß es mit einer schwarzen Klappe bedeckt war.
»Und an diesem Punkt«, sprach der, der jetzt ohne Zweifel der Abbé de Morfi war, »in diesem
Moment ersann dein Bruder das Meisterwerk seines Genies. Wenn er die Reise machen würde, die
Judas sich vorgenommen hatte, würde er die Passion des HErrn verhindern können, und die Welt würde
unerlöst bleiben. Keine Erlösung aber hieße: alle in der Erbsünde befangen, alle der Hölle geweiht, dein
Bruder ein Sünder wie alle anderen und somit gerechtfertigt.«
»Aber wie hätte er das tun können, wie könnte er, wie hat er s gekonnt?« fragte Roberto.
»Oh,« lächelte der Abbé mit schauriger Freude, »das war nicht schwer. Es genügte, auch noch den
Höchsten zu täuschen, der nicht jede Verkleidung der Wahrheit voraussehen kann. Es genügte, den
Judas zu töten, was ich sogleich auf jener Klippe tat, sein Skapulier überzustreifen, mein Schiff
vorauszuschicken an die gegenüberliegende Seite jener Insel, hier in falscher Gestalt aufzutauchen, um zu
verhindern, daß du richtig schwimmen lerntest, damit du mir nicht dort zuvorkommen konntest, und dich
zu zwingen, mit mir die Wasserglocke zu bauen, damit ich die Insel erreichen konnte.« Während er
sprach, hatte er sich, um das Skapulier zu zeigen, langsam den Rock ausgezogen, unter dem er ein
Piratengewand trug, danach riß er sich ebenso langsam den Bart ab, nahm sich die Perücke vom Kopf,
und Roberto war, als blickte er in einen Spiegel.
»Ferrante!« rief er.
»Ich höchstpersönlich, Bruderherz. Während du hier wie ein Hund oder Frosch umhergeschwommen
bist, habe ich auf der anderen Seite der Insel mein Schiff wieder bestiegen, bin an meinem langen
Gründonnerstag nach Jerusalem gefahren, habe dort den anderen Judas gefunden, als er sich gerade
anschickte, seinen Verrat zu begehen, und habe ihn an einem Baum aufgeknöpft, damit er den
Menschensohn nicht den Söhnen der Finsternis überantworten konnte. Dann bin ich mit meinen
Getreuen in den Garten Gethsemane gegangen und habe unsern HErrn entführt, um ihn vor Golgatha zu
bewahren! Und so lebst du, so lebe ich, so leben wir alle nun in einer Welt, die nie erlöst worden ist!«
»Und Christus, wo ist Christus jetzt?«
»Weißt du nicht, daß schon die antiken Texte besagten, es gebe feuerrote Tauben, weil der HErr vor
seiner Kreuzigung eine scharlachrote Tunika angelegt habe? Begreifst du immer noch nicht? Seit
tausendsechshundertzehn Jahren ist Christus auf jener Insel dort drüben gefangen, von wo er in Gestalt
einer Flammenfarbenen Taube zu fliehen versucht, doch er kann nicht fort, denn ich habe das Skapulier
des Judas bei der Specula Melltensis gelassen, so daß es dort immer und ewig derselbe Tag ist. Jetzt
bleibt mir nur noch, auch dich zu töten, um frei zu leben in einer Welt, in der es keine Reue mehr gibt.
Die Hölle ist allen sicher, und eines Tages wird man mich dort unten als den Neuen Luzifer empfangen!«
Sprach s, zog einen kurzen Degen und näherte sich Roberto, um das letzte seiner Verbrechen zu
begehen.
»Nein«, rief Roberto, »das werde ich nicht zulassen. Ich werde dich töten und Christus befreien. Noch
weiß ich mit dem Schwert umzugehen, und dir hat mein Vater nicht seine geheimen Stöße beigebracht!«
»Ich hatte nur einen als Vater und Mutter: deinen kranken Geist«, sagte Ferrante mit einem traurigen [ Pobierz caÅ‚ość w formacie PDF ]

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